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Titel
Das Pomerium. Geschriebene Grenze des antiken Rom


Autor(en)
Emmelius, Daniel
Reihe
Studien zur Alten Geschichte (30)
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
411 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Janico Albrecht, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Innerhalb der historischen Forschung zur römischen Religion ist die Abkehr von der staatsrechtlichen Schwerpunktsetzung des 19. Jahrhunderts in kaum einem Bereich so wenig nachhaltig erfolgt wie im Falle des stadtrömischen Pomerium. Als bemerkenswert schwierig erwies sich die Deutung des P. unter alltagsreligiösen Gesichtspunkten, als erstaunlich alternativlos folglich dessen sakrale Grenzfunktion, die sich in erster Linie auf die politisch-militärische Ordnung der Republik ausgewirkt habe. Einschlägige Arbeiten musste man jenseits der italienischsprachigen Wissenschaft lange vergeblich suchen – auch dies dürfte dazu beigetragen haben, dass das staatsrechtliche Verständnis bemerkenswert lange nachwirkt. Erst in jüngerer Zeit zeugen zwei englischsprachige Monographien von einer zunehmenden Aufmerksamkeit.1 Die Dissertation von Daniel Emmelius berücksichtigt bei der Behandlung des stadtrömischen P. den (wenig ergiebigen) archäologischen Befund und geht zugleich von einer starken Prägung durch den literarischen Diskurs aus. Bei seinem Unterfangen, das P. als eine „geschriebene Grenze“ zu greifen, geht er von Beginn an auf Distanz zu der gängigen Annahme, es habe sich um eine Sakralgrenze mit lebensweltlich relevanten Funktionen gehandelt. Die „Definitions- und Ursprungsfragen“ und die „Funktionszuschreibungen“ werden jeweils in umfangreichen Kapiteln thematisiert, bevor er sich der diskursiven Einbettung und damit der eigentlichen These der Arbeit – das P. werde primär über die Rekonstruktion des es überliefernden antiquarischen Diskurses und nicht des römischen Sakralrechts verständlich – zuwendet.

In dem detaillierten Durchgang der „Definitions- und Ursprungsfragen“ werden die Varianten von Form (P. als Linie, als Grenzstreifen, als Stadtgebiet) und der Relation zur Stadtmauer (innerhalb, außerhalb, beiderseits, identischer Verlauf) ebenso durchexerziert wie der mögliche Konnex zu Gründungsriten der Stadt (Pflugritual, auguratio). Schnell zeigt sich, dass es sich dabei um die Definition des Undefinierbaren handeln muss.2 Mehrfach bevorzugt Emmelius hier Deutungen, die in der Forschung bislang wenig Widerhall gefunden haben, darunter die Entsprechung des P. mit dem Stadtgebiet sowie die Unvereinbarkeit von P. und Pflugritual. Angesichts der Deutungsvielfalt argumentiert er jedoch umsichtig und lässt keinen Zweifel daran, dass die eigentlich relevante Erkenntnis in der Vielstimmigkeit selbst zu finden ist. Trotz seiner vorsichtig geäußerten Präferenzen für manche in der Forschung bislang vernachlässigte Deutungen bleibt die Stoßrichtung des Definitionskapitels dekonstruierend – hier wird der Grundstein für die zentralen Ergebnisse der Arbeit gelegt, die Emmelius in Auseinandersetzung mit dem antiquarischen Diskurs macht.

In der folgenden Auseinandersetzung mit den „Funktionszuschreibungen an das Pomerium“ stehen zahlreiche Erklärungsansätze zur sakralrechtlichen Bedeutung des P. auf dem Prüfstand, darunter die Separation von römischen und fremden Kulten sowie von domi und militiae, die Markierung des Bestattungsverbots und der für die Auspizien relevanten Grenze. Das Fazit lautet in jedem der Fälle, dass in der Forschung Annahmen zur sakralrechtlichen Funktionalität des P. weit über die antiken Aussagen hinaus getroffen wurden. So gründlich und kritisch die Auseinandersetzung mit der Forschung erfolgt, stellt sich manchmal die Frage, ob dabei stets eine gemeinsame Vorstellung von Sakralität oder Sakralrecht zugrunde liegt. Sicherlich mit Recht lässt sich die in der Forschung feststellbare Tendenz zu einer Verwendung sakraler / sakralrechtlicher Begründungen als Platzhalter kritisieren: so etwa im Fall nachweislicher Separationsfunktionen, bei denen aber keine expliziten Verweise auf ihre Herkunft existieren. Seine Anforderungen an die Quellen sind freilich hoch. So reichen ihm etwa die mehrfachen Nennungen von Bestattungen im Zusammenhang mit dem P. nicht für die Annahme, dass dieses die dafür relevante Grenze dargestellt habe, da sich den Quellen kein explizites Bestattungsverbot entnehmen lasse (S. 149f.). Bei der Frage nach dem Waffenverbot ist es ähnlich: „Ein sakralrechtliches Tabu […] kann jedenfalls aus der bloßen Praxis, dass wohl bis 133 v.Chr. keine Waffen bzw. auch dann nur improvisierte Waffen in innenpolitischen Konflikten gebraucht wurden, nicht erschlossen werden.“ (S. 163f.). Soweit nachvollziehbar heißt es dann aber: „Ein solches müsste sich vielmehr auch auf der Diskursebene erkennbar niedergeschlagen haben.“ (S. 164) Das Waffentragen in der Stadt habe folglich keinen „eindeutig festzustellende[n] objektive[n] Sakralrechtsverstoß“ dargestellt (S. 167). Ob derartige Erwartungen an das römische „Sakralrecht“ sowie an die Präzision des literarischen Quellenmaterials immer gerechtfertigt sind, lässt sich bezweifeln. Emmelius‘ oftmals relativierende Ergebnisse basieren auf seinem offenbar sehr formalistischen Ausgangsverständnis des „Sakralrechts“. In diesem Zusammenhang hätte ein definierender Blick darauf, was gerade unter dem republikanischen „Sakralrecht“ und dessen Regelhaftigkeit zu verstehen ist, geholfen. In jedem Fall lassen sie die Position von Emmelius im Verhältnis zu den von ihm analysierten Forschungsthesen als im anderen Extrem verordnet erscheinen. Der Negativbefund dieses Kapitels wirkt dadurch an manchen Stellen etwas forciert, wenngleich die Kritik an der oft assoziativen Anwendung sakraler Vorstellungen durch die Forschung durchaus berechtigt ist.

Die genannten Punkte sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Quellenmaterial und der Forschung erfolgt, an die vielfach interessante Überlegungen anschließen. Beispielsweise geht die erwartbare Feststellung, dass der faktische Ausschluss militärischer Kommandogewalt aus Rom keine sakralrechtliche Grundlage hatte, mit einer differenzierten Diskussion einher, die die für das Verständnis der Praxis ebenso bedeutsamen zeitlichen Abläufe gegenüber den örtlichen Grenzen in den Vordergrund rückt (S. 236f.). Die übergeordnete Erkenntnis lautet aber, dass die Suche nach der faktischen Funktionalität des P. ebenso wenig Erfolg verspricht wie die nach einer einheitlichen Begriffsdefinition.

Zuletzt verfolgt Emmelius den literarischen „Konstitutionsprozess“ des P., den er primär im antiquarischen Diskurs verortet. Hier müsse die literarische Perspektive ernst genommen und dürfe nicht als „Rekonstruktion einer außerhalb ihrer selbst gegebenen Realität“ (S. 286) begriffen werden. Die Eigenheiten des Diskurses seien etymologische Ableitungen, Logiken statt Sicherheiten sowie Verknüpfungen mit anderen antiquarischen Themen (bspw. Stadtgründung und flamen Dialis). Da andere Diskurse (wie der juristische) wenig Eigenes zum Verständnis des P. beitragen, sei der antiquarische Diskurs selbst für die auffällige Mehrdeutigkeit des Begriffs verantwortlich. Als schwierig erweisen sich dabei zweierlei Umstände: Erstens wird uns das P. maßgeblich durch den erst spätrepublikanisch einsetzenden antiquarischen Diskurs vermittelt; Annahmen wie über die vorausgehende historische Irrelevanz (S. 365) lassen sich folglich nur e silentio treffen. Zweitens stellt sich Cassius Dio als Autor dar, dessen Wahrnehmung des P. nicht in das antiquarische Schema passen will, das Emmelius bei früheren Historikern nachweisen kann (S. 358–360). Für seine These, das P. sei eher in den antiquarisch konstituierten Wissensräumen zu suchen als in sakralrechtlich fundierter Alltagspraxis, muss Dio somit ein „Sonderfall“ bleiben.

Das Buch schließt mit Überlegungen zu den Entstehungsumständen des P. als „Kristallisationspunkt von antiquarischem Wissen“ (S. 371). Emmelius sieht eine Verbindung zu einer sich in der späten Republik ausbildenden stärkeren Auseinandersetzung mit bestimmten Örtlichkeiten mit ritueller Relevanz, wobei zunehmend nicht mehr nur das reine „Handlungswissen“ (S. 370) thematisiert wurde. In der augusteischen Zeit gesellte sich dazu als „imperiale[r] Bedeutungskomplex“ die „räumliche Erfahrbarmachung“ (S. 373), auf der auch die kaiserlichen Erweiterungen des P. basierten.

Emmelius thematisiert in seiner Arbeit zum P. nicht primär eine heilige Grenze, sondern einen antiken Diskurs. Der Vielstimmigkeit der Quellen versucht er nicht durch die Rekonstruktion einer „ursprünglichsten“ oder „plausibelsten“ Bedeutung zu begegnen. Es ist vielmehr sein ambitioniertes Ziel, den umfangreichen Fundus an Quellenmaterial und Forschungsdiskussionen zum P. auf den Prüfstand zu stellen und es als Objekt antiquarischer Beschäftigung in wissensräumlicher Hinsicht zu deuten. Der aus der zugrundeliegenden doppelten Abstraktion (Brechung durch antiquarischen Diskurs sowie Immaterialität des Ortes) entstehenden Komplexität des Themas wird durch eine gut nachvollziehbare Präsentation des Materials begegnet. Ein hilfreiches Register und ein Index der wichtigsten Quellenstellen erleichtern die Orientierung. Gerade das zweite und dritte Kapitel eignen sich damit gut zum Nachschlagen, denn in den jeweiligen Unterkapiteln wird umfänglich auf die Quellen eingegangen (inklusive der archäologischen – etwa bei den cippi und der Bestattungsgrenze). Nicht jeder wird ihm bei der Abkehr von allen traditionelleren Deutungsmustern folgen wollen, zumal der Negativbefund einer „sakralrechtlich“ verankerten Grenze stellenweise etwas forciert wirkt und einzelne Quellenstellen auch anders interpretiert werden können. Da der Umgang mit diesen Fällen jedoch stets reflektiert und in gründlicher Auseinandersetzung mit den Quellen und der Forschung erfolgt, ist eine fruchtbare Grundlage für weitere Diskussionen gegeben.

Anmerkungen:
1 Saskia Stevens, City boundaries and urban development in Roman Italy, Löwen 2017; Michael Koortbojian, Crossing the pomerium. The boundaries of political, religious, and military institutions from Caesar to Constantine, Princeton 2020.
2 Symptomatisch für diese Schwierigkeit steht Ciceros zweifache Verwendung des Begriffs in nat. 2, 11, wo mit den Verben intrare und transire beide sich vermeintlich ausschließenden Möglichkeiten angedeutet werden.

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